Veranstaltung: | 51. Landesparteitag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sachsen-Anhalt |
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Tagesordnungspunkt: | 6. Anträge |
Antragsteller*in: | Landesvorstand (dort beschlossen am: 08.11.2024) |
Status: | Eingereicht |
Verfahrensvorschlag: | Übernahme |
Eingereicht: | 08.11.2024, 21:24 |
A7: 35 Jahre nach der friedlichen Revolution – im Herzen vereinigt, finanziell getrennt
Antragstext
Im Herbst 1989 war die Hoffnung groß - auf Einigkeit, Recht und Freiheit. Den
Menschen auf den Straßen und Plätzen in Magdeburg, Halle, Leipzig, Berlin und
nicht zuletzt auch in Quedlinburg ging es konkret um ihre Unfreiheit, die
Gängelung und Willkür der Stasi, die Angst und darum, ihre Würde und Grundrechte
wieder zu erkämpfen.
Und sie errangen mit der friedlichen Revolution Demokratie, Freiheit und einen
Rechtsstaat. Das war und ist jedoch kein Selbstläufer.
Jahrelang schien die Mauer unüberwindbar – hier hörte für viele die Welt auf.
Doch diese Mauer wurde niedergerissen – ganz ohne Gewalt und ohne den Verlust
von Menschenleben. Doch die echte deutsche Einheit war nur mit der
Selbstdemokratisierung der Ostdeutschen und einer dann wirklich demokratischen
DDR erreichbar. Erst diese konnte dann schließlich legitimiert die nötigen
Verhandlungen zur deutschen Einheit führen.
Im Jahr 2024 steht die Demokratie erneut unter Beschuss – und das in ganz
Europa. Die Regierungschefin in Italien wird von den “Brüdern Italiens”
gestellt, in den Niederlanden gibt es jetzt eine rechte Regierung und auch die
schweizerische Volkspartei ist auf dem Vormarsch – über Orban, Le Pen oder die
immer noch stärkste Kraft in Polen, die PiS-Partei haben wir dann noch gar nicht
gesprochen. In Deutschland etabliert sich die AfD – und das nicht nur in
Ostdeutschland. Jedoch gerade in Ostdeutschland ist die AfD flächendeckend als
erwiesen rechtsextremistisch eingestuft.
Trotzdem oder gerade deswegen hat die “Alternative für Deutschland” Wahlerfolge
errungen. Bei der Kommunalwahl, Europawahl und zuletzt bei den Landtagswahlen im
Osten. Diese Ausprägungen und Entwicklungen bereiten uns, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sachsen-Anhalt, sehr große Sorgen. Gerade wegen des “Bündnis 90” in unserem
Namen. Denn Im Februar 1990 entstand dieses Bündnis aus zwei Bewegungen mit dem
Ziel und Ausgangspunkt nicht eine Demokratie zu verteidigen, sondern erst einmal
eine zu schaffen. Dieses Bündnis entstand aus mehreren Bürger*innenbewegungen.
Eine davon war das “Neue Forum”. Diesem gehörte unter anderen unser
Landtagsabgeordneter Olaf Meister seit 1989 an, der selbst hautnah auf dem
Domplatz in Magdeburg an der friedlichen Revolution mitgewirkt hat.
Die weiteren Bürger*innenbewegungen, die gewaltfrei, mit Montagsgebeten aber vor
allem mutig auf den Straßen Ostdeutschlands demonstrierten, waren die Initiative
Frieden und Menschenrechte (IFM) und “Demokratie jetzt”. Diese Menschen haben
sich selbst, mit großer Selbstwirksamkeitserfahrung aus einer Diktatur befreit.
Nun 35 Jahre später wählen viele Ostdeutsche, aber auch ihre Kinder, eine
gesichert rechtsextreme Partei:
- Eine Partei, die die Existenz der Bauern gefährdet, indem sie die
gemeinsame Agrarpolitik und ihr Förderinstrument ablehnt.
- Eine Partei, die Menschen mit Beeinträchtigungen verachtet, indem sie
unter anderem beeinträchtigte Kinder ausschließlich auf Förderschulen
verbannen möchte.
- Eine Partei, die Ängste schürt, statt für Zusammenhalt und Solidarität zu
stehen.
Die friedliche Revolution von 1989 hat uns gezeigt, was Menschen gemeinsam
erreichen können, wenn sie für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte
eintreten. Diese Werte leiten uns bis heute. Die damaligen Demonstrationen waren
auch ein Protest gegen Ignoranz, Stillstand und die Zerstörung unserer
Lebensgrundlagen. Der Mut, das alte System infrage zu stellen und für eine
bessere Zukunft zu kämpfen, prägt unser politisches Handeln bis heute. Wir sehen
uns in der Verantwortung, die Errungenschaften der Wendezeit zu verteidigen und
die Vision einer gerechten und nachhaltigen Gesellschaft weiterzuentwickeln.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sachsen-Anhalt ist und bleibt weiterhin klar
anifaschistisch und kämpft für den Erhalt unserer Demokratie. Dafür braucht es
flächendeckend und über alle gesellschaftlichen Gruppen hinweg solide politische
Bildung. Die Träger der politischen Bildung im Land Sachsen-Anhalt brauchen eine
gesicherte Finanzierung (aus Bund und Land), Planbarkeit und kein ständiges
Antragsschreiben. Wir brauchen jetzt dringend das Demokratiefördergesetz auf
Bundesebene.
Das geeinte Deutschland wird gepredigt, aber zumindestens finanziell ist die
Deutsche Einheit an vielen Stellen noch nicht erreicht. Gleichwertige
Lebensverhältnisse und Lebensbedingungen in West und Ost sind noch nicht
vollendet.
Vor wenigen Monaten wurde der erste Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung
veröffentlicht. Hier wird vieles unterstrichen, was die Menschen in Sachsen-
Anhalt schon lange in ihrem Alltag wahrnehmen. Demografischer Wandel,
Überalterung, vorzeitige Sterblichkeit sind wesentliche Herausforderungen. Der
Indikator „vorzeitige Sterblichkeit“ spiegelt dabei einen, im Ländervergleich,
besonders schlechten gesundheitlichen Zustand der Bevölkerung, wider. Hier
sticht Sachsen-Anhalt neben Thüringen deutlich heraus.1 Erst fast 35 Jahre nach
der Wiedervereinigung wurde das Niveau der Renten in Ost und West im Juli 2023
angeglichen.
Zum 1. Juli 2024 sind die gesetzlichen Renten das erste Mal einheitlich für Ost-
und West angestiegen. Jahrzehntelang haben sich Ostrentner*innen abgehangen
gefühlt. Jetzt könnte die Angleichung gelingen. Aber: Zwei Faktoren gefährden
die soziale und finanzielle Gerechtigkeit nach wie vor. Denn neben der
gesetzlichen Rentenvorsorge sind die private und betriebliche Rentenvorsorge zu
wichtigen Standbeinen geworden. Nur nicht im Osten. Lediglich 24% der
Erwerbstätigen in Sachsen-Anhalt verfügen über eine betriebliche Altersvorsorge
– damit ist unser Bundesland einmal mehr auf dem letzten Platz.2 Die Zahl der
Beschäftigten mit staatlichem Zuschuss für die betriebliche Altersvorsorge nahm
im Jahr 2023 weiter ab. Nur 25.006 Beschäftigte erhielten 2023 eine bAV-
Förderung.3
Der Ost-Renten-Schock kommt jedoch erst noch. In den nächsten Jahren gehen genau
die Menschen in ihre wohlverdiente Rente, die nach 1989 die vielen Umbrüche vor
allem in ihrer eigenen Erwerbsbiografie erlebt haben. Darauf ist das
Rentensystem noch nicht vorbereitet. Aber zur Rentenanpassung: Weil zeitgleich
die bisherige Hochwertung der beitragspflichtigen Einkommen in Ostdeutschland
abgeschafft wurde, erwerben die Beitragszahler in Ost nun niedrigere
Anwartschaften auf ihre Einkommen. Das hat eine aktuelle Studie des ifo
Instituts Dresden deutlich gemacht.4 Die Rentenangleichung war schneller als die
Lohnangleichung. Mit Blick auf die Folgen niedriger Stundenlöhne in den neuen
Bundesländern für die künftigen Rentenansprüche der Beschäftigten muss
spätestens jetzt der gesamtwirtschaftliche Lohnrückstand abgebaut werden, um
neben der Lohn- auch Rentengerechtigkeit zu erreichen.
Erst am 22. Oktober 2024 war Ost-West-Lohnlückentag. Gegenüber einem
bundeseinheitlichen Lohnniveau arbeiten die Menschen in Ostdeutschland von da an
bis zum Jahresende rein rechnerisch ohne Entgelt. Auch Sachsen-Anhalt hat eine
eher geringe Tarifbindung im Vergleich zu anderen Bundesländern. Beim Monatslohn
zeigen sich die größten Nachteile einer fehlenden Tarifbindung in
Ostdeutschland: In Sachsen-Anhalt verdienen Beschäftigte in tariflosen Betrieben
monatlich 14,2 Prozent weniger als Arbeitnehmer*innen in vergleichbaren
Betrieben mit Tarifbindung.5 Die Tarifbindung in Sachsen-Anhalt beträgt in 2022
48 Prozent. Das ist kein schlechter Stand, aber noch lange nicht im führenden
Drittel der Bundesländer. Die Landesregierung hat sich in ihrem
Koalitionsvertrag darauf verständigt, Maßnahmen zur Stärkung der Tarifbindung zu
unterstützen. Das Tariftreue- und Vergabegesetz des Landes ist ein erster
Schritt. Uns ist dies aber noch zu wenig.
Wir als BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sachsen-Anhalt wollen die Tarifbindung noch weiter
erhöhen, indem die Vergabe von Fördermitteln, Wirtschaftshilfen und ähnlichem an
die Bedingung geknüpft wird, dass Unternehmen und Institutionen Tariflöhne
zahlen sowie Tarifverträge einhalten.
Auch bei Erbschaften und Vermögen stehen der Osten und auch Sachsen-Anhalt ganz
hinten an. Sachsen-Anhalt belegte bei den steuerpflichtigen Erbschaften und
Schenkungen in 2022 mit 65 € pro Einwohner*in (oberhalb der Freibetragsgrenze)
den letzten Platz. Eine Auswertung des MDR zeigt: Im Westen wurde 2022 pro
Einwohner*in gut neunmal so viel steuerpflichtiges Vermögen vererbt oder
verschenkt wie in Ostdeutschland. In den alten Bundesländern profitiert nicht
nur ein größerer Anteil der Bevölkerung, gleichzeitig sind die Erbschaften und
Schenkungen im Schnitt auch höher als im Osten.6 Diese Ungleichheit resultiert
nicht daraus, dass die Ostdeutschen nicht fleißig genug wären. Vor allem trägt
das deutsche Steuersystem nicht dazu bei, dass Vermögen dorthin geht, wo
Leistung erbracht wird. Das deutsche Steuersystem fokussiert stark auf
Konsumsteuern und Arbeitssteuern (Einkommenssteuer etc.) und kaum auf das
Vermögen oder Erbschaften. Dieser Umstand sorgt dafür, dass die Ungleichheit
auch im Landeshaushalt sichtbar wird. Während Bayern 2022 3,3 Milliarden Euro
(5% des Landeshaushalts) durch Erbschafts- und Schenkungssteuern einnahm, waren
es in Sachsen-Anhalt lediglich 26,4 Millionen Euro (0,2% des Landeshaushalts).
Die Vermögensteuer ist seit 1997 ausgesetzt. Wir Bündnisgrüne auf Bundesebene
fordern schon lange die Einführung einer neuen Vermögenssteuer insbesondere nach
der Corona-Krise.7
Die Vermögensteuer soll dabei erst ab hohen Vermögen von mehr als 2 Millionen
Euro pro Person greifen und jährlich 1 % betragen. Um Unternehmen nicht zu stark
zu belasten, sollten gleichzeitig Begünstigungen für Betriebsvermögen eingeführt
werden und Investitionsanreize geschaffen werden.
Nach dem Gerechtigkeitsbericht und der deutlichen Erkenntnis, dass Vermögen in
diesem Land ungleich verteilt ist und wir gleichzeitig dringend Investitionen in
unsere Infrastruktur, soziale Sicherheit, Demokratieförderung und Sozialstaat
sowie Bildung, Forschung und Entwicklung brauchen, wollen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sachsen-Anhalt diese Forderung gegenüber dem Bund auch als Landespartei
verdeutlichen. Die Vermögenssteuer ist eine Ländersteuer und könnte den
Landeshaushalten laut DIW rund 17-35 Milliarden Euro pro Jahr zuführen.
Um mehr Steuergerechtigkeit zu erzielen, aber auch um mehr Investitionen in die
Infrastruktur und Zukunft dieses Landes tätigen zu können, fordern wir als
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sachsen-Anhalt die Wiedereinführung der Vermögensteuer.
Zustimmung
- Robin Ebbrecht
- Stefan Schweigel