Antrag: | 35 Jahre nach der friedlichen Revolution – im Herzen vereinigt, finanziell getrennt |
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Antragsteller*in: | Lars Brzyk (KV Halle) |
Status: | Geprüft |
Eingereicht: | 21.11.2024, 17:08 |
Ä4 zu A7: 35 Jahre nach der friedlichen Revolution – im Herzen vereinigt, finanziell getrennt
Antragstext
Im Herbst 1989 war die Hoffnung groß - auf Einigkeit, Recht und Freiheit. Den Menschen auf den Straßen und Plätzen in Magdeburg, Halle, Leipzig, Berlin und nicht zuletzt auch in Quedlinburg ging es konkret um ihre Unfreiheit, die Gängelung und Willkür der Stasi, die Angst und darum, ihre Würde und Grundrechte wieder zu erkämpfen.
Und sie errangen mit der friedlichen Revolution Demokratie, Freiheit und einen Rechtsstaat. Das war und ist jedoch kein Selbstläufer.
Jahrelang schien die Mauer unüberwindbar – hier hörte für viele die Welt auf. Doch diese Mauer wurde niedergerissen – ganz ohne Gewalt und ohne den Verlust von Menschenleben. Doch die echte deutsche Einheit war nur mit der Selbstdemokratisierung der Ostdeutschen und einer dann wirklich demokratischen DDR erreichbar. Erst diese konnte dann schließlich legitimiert die nötigen Verhandlungen zur deutschen Einheit führen.
Im Jahr 2024 steht die Demokratie erneut unter Beschuss – und das in ganz Europa. Die Regierungschefin in Italien wird von den “Brüdern Italiens” gestellt, in den Niederlanden gibt es jetzt eine rechte Regierung und auch die schweizerische Volkspartei ist auf dem Vormarsch – über Orban, Le Pen oder die immer noch stärkste Kraft in Polen, die PiS-Partei haben wir dann noch gar nicht gesprochen. In Deutschland etabliert sich die AfD – und das nicht nur in Ostdeutschland. Jedoch gerade in Ostdeutschland ist die AfD flächendeckend als erwiesen rechtsextremistisch eingestuft.
Trotzdem oder gerade deswegen hat die “Alternative für Deutschland” Wahlerfolge errungen. Bei der Kommunalwahl, Europawahl und zuletzt bei den Landtagswahlen im Osten. Diese Ausprägungen und Entwicklungen bereiten uns, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sachsen-Anhalt, sehr große Sorgen. Gerade wegen des “Bündnis 90” in unserem Namen. Denn Im Februar 1990 entstand dieses Bündnis aus zwei Bewegungen mit dem Ziel und Ausgangspunkt nicht eine Demokratie zu verteidigen, sondern erst einmal eine zu schaffen. Dieses Bündnis entstand aus mehreren Bürger*innenbewegungen. Eine davon war das “Neue Forum”. Diesem gehörte unter anderen unser Landtagsabgeordneter Olaf Meister seit 1989 an, der selbst hautnah auf dem Domplatz in Magdeburg an der friedlichen Revolution mitgewirkt hat.
Die weiteren Bürger*innenbewegungen, die gewaltfrei, mit Montagsgebeten aber vor allem mutig auf den Straßen Ostdeutschlands demonstrierten, waren die Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) und “Demokratie jetzt”. Diese Menschen haben sich selbst, mit großer Selbstwirksamkeitserfahrung aus einer Diktatur befreit. Nun 35 Jahre später wählen viele Ostdeutsche, aber auch ihre Kinder, eine gesichert rechtsextreme Partei:
- Eine Partei, die die Existenz der Bauern gefährdet, indem sie die gemeinsame Agrarpolitik und ihr Förderinstrument ablehnt.
- Eine Partei, die Menschen mit Beeinträchtigungen verachtet, indem sie unter anderem beeinträchtigte Kinder ausschließlich auf Förderschulen verbannen möchte.
- Eine Partei, die Ängste schürt, statt für Zusammenhalt und Solidarität zu stehen.
Die friedliche Revolution von 1989 hat uns gezeigt, was Menschen gemeinsam erreichen können, wenn sie für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte eintreten. Diese Werte leiten uns bis heute. Die damaligen Demonstrationen waren auch ein Protest gegen Ignoranz, Stillstand und die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. Der Mut, das alte System infrage zu stellen und für eine bessere Zukunft zu kämpfen, prägt unser politisches Handeln bis heute. Wir sehen uns in der Verantwortung, die Errungenschaften der Wendezeit zu verteidigen und die Vision einer gerechten und nachhaltigen Gesellschaft weiterzuentwickeln.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sachsen-Anhalt ist und bleibt weiterhin klar anifaschistisch und kämpft für den Erhalt unserer Demokratie. Dafür braucht es flächendeckend und über alle gesellschaftlichen Gruppen hinweg solide politische Bildung. Die Träger der politischen Bildung im Land Sachsen-Anhalt brauchen eine gesicherte Finanzierung (aus Bund und Land), Planbarkeit und kein ständiges Antragsschreiben. Wir brauchen jetzt dringend das Demokratiefördergesetz auf Bundesebene.
Das geeinte Deutschland wird gepredigt, aber zumindestens finanziell ist die Deutsche Einheit an vielen Stellen noch nicht erreicht. Gleichwertige Lebensverhältnisse und Lebensbedingungen in West und Ost sind noch nicht vollendet.
Vor wenigen Monaten wurde der erste Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung veröffentlicht. Hier wird vieles unterstrichen, was die Menschen in Sachsen-Anhalt schon lange in ihrem Alltag wahrnehmen. Demografischer Wandel, Überalterung, vorzeitige Sterblichkeit sind wesentliche Herausforderungen. Der Indikator „vorzeitige Sterblichkeit“ spiegelt dabei einen, im Ländervergleich, besonders schlechten gesundheitlichen Zustand der Bevölkerung, wider. Hier sticht Sachsen-Anhalt neben Thüringen deutlich heraus.1 Erst fast 35 Jahre nach der Wiedervereinigung wurde das Niveau der Renten in Ost und West im Juli 2023 angeglichen.
Zum 1. Juli 2024 sind die gesetzlichen Renten das erste Mal einheitlich für Ost- und West angestiegen. Jahrzehntelang haben sich Ostrentner*innen abgehangen gefühlt. Jetzt könnte die Angleichung gelingen. Aber: Zwei Faktoren gefährden die soziale und finanzielle Gerechtigkeit nach wie vor. Denn neben der gesetzlichen Rentenvorsorge sind die private und betriebliche Rentenvorsorge zu wichtigen Standbeinen geworden. Nur nicht im Osten. Lediglich 24% der Erwerbstätigen in Sachsen-Anhalt verfügen über eine betriebliche Altersvorsorge – damit ist unser Bundesland einmal mehr auf dem letzten Platz.2 Die Zahl der Beschäftigten mit staatlichem Zuschuss für die betriebliche Altersvorsorge nahm im Jahr 2023 weiter ab. Nur 25.006 Beschäftigte erhielten 2023 eine bAV-Förderung.3
Der Ost-Renten-Schock kommt jedoch erst noch. In den nächsten Jahren gehen genau die Menschen in ihre wohlverdiente Rente, die nach 1989 die vielen Umbrüche vor allem in ihrer eigenen Erwerbsbiografie erlebt haben. Darauf ist das Rentensystem noch nicht vorbereitet. Aber zur Rentenanpassung: Weil zeitgleich die bisherige Hochwertung der beitragspflichtigen Einkommen in Ostdeutschland abgeschafft wurde, erwerben die Beitragszahler in Ost nun niedrigere Anwartschaften auf ihre Einkommen. Das hat eine aktuelle Studie des ifo Instituts Dresden deutlich gemacht.4 Die Rentenangleichung war schneller als die Lohnangleichung. Mit Blick auf die Folgen niedriger Stundenlöhne in den neuen Bundesländern für die künftigen Rentenansprüche der Beschäftigten muss spätestens jetzt der gesamtwirtschaftliche Lohnrückstand abgebaut werden, um neben der Lohn- auch Rentengerechtigkeit zu erreichen.
Erst am 22. Oktober 2024 war Ost-West-Lohnlückentag. Gegenüber einem bundeseinheitlichen Lohnniveau arbeiten die Menschen in Ostdeutschland von da an bis zum Jahresende rein rechnerisch ohne Entgelt. Auch Sachsen-Anhalt hat eine eher geringe Tarifbindung im Vergleich zu anderen Bundesländern. Beim Monatslohn zeigen sich die größten Nachteile einer fehlenden Tarifbindung in Ostdeutschland: In Sachsen-Anhalt verdienen Beschäftigte in tariflosen Betrieben monatlich 14,2 Prozent weniger als Arbeitnehmer*innen in vergleichbaren Betrieben mit Tarifbindung.5 Die Tarifbindung in Sachsen-Anhalt beträgt in 2022 48 Prozent. Das ist kein schlechter Stand, aber noch lange nicht im führenden Drittel der Bundesländer. Die Landesregierung hat sich in ihrem Koalitionsvertrag darauf verständigt, Maßnahmen zur Stärkung der Tarifbindung zu unterstützen. Das Tariftreue- und Vergabegesetz des Landes ist ein erster Schritt. Uns ist dies aber noch zu wenig.
Wir als BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sachsen-Anhalt wollen die Tarifbindung noch weiter erhöhen, indem die Vergabe von Fördermitteln, Wirtschaftshilfen und ähnlichem an die Bedingung geknüpft wird, dass Unternehmen und Institutionen Tariflöhne zahlen sowie Tarifverträge einhalten.
Auch bei Erbschaften und Vermögen stehen der Osten und auch Sachsen-Anhalt ganz hinten an. Sachsen-Anhalt belegte bei den steuerpflichtigen Erbschaften und Schenkungen in 2022 mit 65 € pro Einwohner*in (oberhalb der Freibetragsgrenze) den letzten Platz. Eine Auswertung des MDR zeigt: Im Westen wurde 2022 pro Einwohner*in gut neunmal so viel steuerpflichtiges Vermögen vererbt oder verschenkt wie in Ostdeutschland. In den alten Bundesländern profitiert nicht nur ein größerer Anteil der Bevölkerung, gleichzeitig sind die Erbschaften und Schenkungen im Schnitt auch höher als im Osten.6 Diese Ungleichheit resultiert nicht daraus, dass die Ostdeutschen nicht fleißig genug wären. Vor allem trägt das deutsche Steuersystem nicht dazu bei, dass Vermögen dorthin geht, wo Leistung erbracht wird. Das deutsche Steuersystem fokussiert stark auf Konsumsteuern und Arbeitssteuern (Einkommenssteuer etc.) und kaum auf das Vermögen oder Erbschaften. Dieser Umstand sorgt dafür, dass die Ungleichheit auch im Landeshaushalt sichtbar wird. Während Bayern 2022 3,3 Milliarden Euro (5% des Landeshaushalts) durch Erbschafts- und Schenkungssteuern einnahm, waren es in Sachsen-Anhalt lediglich 26,4 Millionen Euro (0,2% des Landeshaushalts). Die Vermögensteuer ist seit 1997 ausgesetzt. Wir Bündnisgrüne auf Bundesebene fordern schon lange die Einführung einer neuen Vermögenssteuer insbesondere nach der Corona-Krise.7
Die Vermögensteuer soll dabei erst ab hohen Vermögen von mehr als 2 Millionen Euro pro Person greifen und jährlich 1 % betragen. Um Unternehmen nicht zu stark zu belasten, sollten gleichzeitig Begünstigungen für Betriebsvermögen eingeführt werden und Investitionsanreize geschaffen werden.
Nach dem Gerechtigkeitsbericht und der deutlichen Erkenntnis, dass Vermögen in diesem Land ungleich verteilt ist und wir gleichzeitig dringend Investitionen in unsere Infrastruktur, soziale Sicherheit, Demokratieförderung und Sozialstaat sowie Bildung, Forschung und Entwicklung brauchen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sachsen-Anhalt fordert die konsequente Umsetzung von Maßnahmen, um Gerechtigkeitslücken im Steuersystem zu schließen und das Gemeinwohl nachhaltig zu stärken. Eine gerechtere Besteuerung von Kapitalerträgen, Erbschaften und Immobiliengewinnen sowie die effektive Bekämpfung von Steuerkriminalität können zusätzliche Mittel in Milliardenhöhe für zentrale öffentliche Aufgaben bereitstellen.
Unsere Forderungen im Detail:
Kapitalerträge gerechter besteuern:
Wiedereinführung der progressiven Besteuerung von Kapitalerträgen.
Abschaffung der pauschalen Abgeltungssteuer, um Einkünfte aus Kapital und Arbeit gleichzustellen.
Globale Steuergerechtigkeit fördern:
Unterstützung der Einführung einer globalen Milliardärssteuer.
Ausbau internationaler Zusammenarbeit zur Bekämpfung von Steuerflucht und aggressiver Steuervermeidung.
Steuerkriminalität konsequent bekämpfen:
Erhöhung der Personalkapazitäten in Finanzbehörden und Staatsanwaltschaften.
Verschärfung der Strafen für organisierte Steuerkriminalität und systematische Steuerhinterziehung.
Reform der Erbschafts- und Schenkungssteuer:
Abschaffung von Steuerbefreiungen für Erbschaften ab 300 Wohnungen, um Spekulationen zu verhindern.
Einführung einer progressiven Besteuerung großer Erbschaften und Schenkungen.
Immobilienspekulation eindämmen:
Schließung von Steuerschlupflöchern, insbesondere bei sogenannten "Share Deals".
Besteuerung von Gewinnen aus Immobilienverkäufen, um spekulative Marktmechanismen zu reduzieren.
Mit diesen Maßnahmen setzen wir uns für ein gerechteres Steuersystem ein, das soziale Ungleichheit abbaut, öffentliche Infrastruktur stärkt und dem Gemeinwohl dient.